602010 SE Ethik II: Vulnerabilität als ethische und politische Kategorie

Sommersemester 2024 | Stand: 08.01.2024 LV auf Merkliste setzen
602010
SE Ethik II: Vulnerabilität als ethische und politische Kategorie
SE 2
5
wöch.
2-Jahresrhythmus
Deutsch

Vulnerabilität ist ein Konzept, das gerade in den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit erfahren hat - v.a. innerhalb der feministischen Ethik, aber auch im Menschenrechtsdiskurs, in der Medizinethik oder auch in der Ethik der Mensch-Tier-Beziehung. In dieser Lehrveranstaltung sollen Ansätze der Moralphilosophie sowie der Politischen Philosophie behandelt und diskutiert werden, für die der Begriff der Vulnerabilität zentral ist (bspw. bei Judith Butler, Erinn Gilson, Martha Fineman, Clare Palmer oder auch Emmanuel Levinas). Die Studierenden sollen lernen, wie dieses Konzept im zeitgenössischen Diskurs verhandelt wird, diese Ansätze kritisch reflektieren, und verstehen, welche Methoden sich damit verbinden.

Grundsätzlich sollen Ansätze vorgestellt und diskutiert werden, die Vulnerabilität und Angewiesenheit als zentrale Kategorien in den Vordergrund rücken. Robert Goodin und Alasdair MacIntyre haben schon vor mehr als 20 Jahren versucht, den Begriff der Vulnerabilität als Gegenentwurf zu „ratiozentristischen“ Theorien der Moralphilosophie ins Feld zu führen. Letztere dienen innerhalb der Vorlesung als Kontrastfolien, denn sie gründen moralische Verpflichtung oftmals auf rationale Fähigkeiten wie Autonomie (Kant), Selbstbewusstsein (Singer), Zustimmungsfähigkeit (Carruthers, Scanlon) oder gesellschaftliche Teilhabe (Rawls). Alle diese Ansätze sind aber implizit oder explizit selektiv und produzieren menschliche marginal cases bzw. schließen nichtmenschliche Individuen aus. Bei Goodin und MacIntyre erscheint aber die Vulnerabilität als ein zu behebender oder zumindest auszugleichender Makel; wir wären dann also verpflichtet, die „besonders Vulnerablen“ (typische, allzu typische Beispiele wären Kinder, Menschen mit Behinderung oder Tiere) besonders zu schützen.

Im Kontrast dazu hat die rezente Debatte den Weg verfolgt, moralische Verpflichtung als grundgelegt in allgemein geteilter, existentieller Abhängigkeit und Vulnerabilität zu verstehen (dies geschieht nicht selten im Rekurs auf Emmanuel Levinas’ Grundlegung der Ethik durch Vulnerabilität – z.B. bei Judith Butler). Dem wurde und wird aber auch immer wieder entgegengehalten, dass sich mit einem einseitigen Fokus auf die Verletzlichkeit Begriffe bzw. Werte wie Autonomie, Empowerment und Emanzipation in den Hintergrund rücken und eine „therapy culture“ (Furedi) unterstützt wird, innerhalb derer Individuen und Gruppen Anerkennung nur finden, wenn sie sich vulnerabilisieren (lassen). Außerdem könnte damit der Kampf um diese Anerkennung eine perfide Unterwanderung ethischer Berücksichtigung mit sich bringen, etwa wenn sich hegemoniale Gruppen und Strukturen mit dem Verweis auf ihre Vulnerabilität gegen Kritik immunisieren (man denke nur an die zahllosen, bspw. nationalistischen Versuche, die eigene Lebensart als bedroht durch [das] Andere darzustellen). Die Vorlesung soll unterschiedliche Zugänge zur Vulnerabilität zur Darstellung bringen, analysieren, kritisch reflektieren und gegeneinander abwägen, um letztlich zu einem notgedrungen fragmentarischen Gesamtbild einer Ethik der Vulnerabilität zu gelangen.

Die verwendeten Texte werden auf OLAT publiziert.

Vortrag, Impulsreferate, Lektürereflexionen, close reading, vor allem: Diskussion!

   Regelmäßige aktive Teilnahme

   Abgabe von vier Lektürereflexionen

   Impulsreferat oder zusätzliche drei Lektürereflexion 

   Abgabe einer Seminararbeit im Umfang von 10 bis 15 Seiten

Vorläufige Literaturliste:

Butler, J.: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005.

Butler, J.: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt am Main: Campus, 2010.

Crary, A.: Inside Ethics. On the Demands of Moral Thought. Harvard: Harvard University Press, 2016. Fineman, M.: The Autonomy Myth. A Theory of Dependency. New York: The New Press, 2005.

Gilson, E.: The Ethics of Vulnerability. A Feminist Analysis of Social Life and Practice. New York: Routledge, 2014.

Goodin, R.: Vulnerabilities and Responsibilities. An Ethical Defense of the Welfare State. The American Political Science Review 79 (3), 1985, 775-787.

Goodin, R.E.: Protecting the Vulnerable. A Reanalysis of Our Social Responsibilities. Chicago/London: University of Chicago Press, 1985.

Levinas, E.: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. München: Fink, 1987.

Levinas, E.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg: Alber, 1992.

MacIntyre, A.: Dependent Rational Animals. Why Human Beings Need the Virtues. Chicago: Open Court, 1999.

Mackenzie, C./Rogers, W./Dodds, S.: Vulnerability. New Essays in Ethics and Feminist Philosophy. Oxford: Oxford University Press, 2013.

Nussbaum, M.: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2010.

Petherbridge, D: What’s Critical about Vulnerability? Rethinking Interdependence, Recognition, and Power. Hypatia 31(3), 2016, 589-604.

Turner, B.: Vulnerability and Human Rights. Essays on Human Rights. Pennsylvania: The Pennsylvania University Press, 2006.

 

06.03.2024
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